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Unter Islands Gletschern entstehen jedes Jahr aufs Neue vergängliche Kathedralen aus Eis - geschaffen von Schmelzwasser, geformt von physikalischen Gesetzen, getönt in leuchtendem Blau. Diese Höhlen sind nicht nur spektakuläre Naturschauspiele, sondern auch Archive der Klimageschichte und Zeugen des Gletscherschwunds. Ein Blick in eine Welt, die sich täglich verändert und deren Zukunft ungewiss ist.

Der Eingang ist kaum mehr als ein schmaler Spalt im Gletschereis, doch dahinter offenbart sich eine Welt, die so unwirklich erscheint, dass selbst erfahrene Glaziologen beim ersten Anblick innehalten. Das Licht bricht sich in unzähligen Facetten durch die Eiswände, verwandelt das Innere der Höhle in ein Kaleidoskop aus Blau- und Türkistönen, durchzogen von schwarzen Ascheschichten vulkanischen Ursprungs. Was hier entsteht, ist kein Beweis menschlicher Kunstfertigkeit, sondern das Ergebnis physikalischer Prozesse, die so komplex sind, dass Wissenschaftler sie erst in den vergangenen Jahrzehnten vollständig zu verstehen begannen. Islands Eishöhlen gehören zu den flüchtigsten Naturschauspielen unseres Planeten – und zu den am wenigsten verstandenen.
Island liegt auf dem Mittelatlantischen Rücken, einer gewaltigen unterseeischen Gebirgskette, wo die Nordamerikanische und die Eurasische Platte auseinanderdriften. Diese tektonische Aktivität macht die Insel zu einem der vulkanisch aktivsten Gebiete der Erde und genau diese Verbindung von Feuer und Eis schafft die Voraussetzungen für die Entstehung der Eishöhlen. Etwa elf Prozent der Landesfläche Islands sind von Gletschern bedeckt, allen voran der Vatnajökull, mit rund 8.100 Quadratkilometern der größte Gletscher Europas. Unter seinem Eispanzer verbergen sich mehrere aktive Vulkane, darunter der berüchtigte Bárðarbunga. Wenn diese Feuerberge ausbrechen, schmilzt das Eis von unten, während gleichzeitig Schmelzwasser von der Oberfläche durch Spalten und Risse nach unten sickert. Dieses Zusammenspiel aus geothermaler Aktivität, Schmelzwasserdynamik und den physikalischen Eigenschaften von Eis schafft ein sich ständig wandelndes Höhlensystem, das von Saison zu Saison, manchmal von Woche zu Woche sein Gesicht verändert.
Die Entstehung einer Eishöhle folgt Gesetzmäßigkeiten, die auf den ersten Blick paradox erscheinen mögen: Eis schmilzt durch Eis. Wenn im Spätsommer die Temperaturen steigen, bilden sich auf der Gletscheroberfläche Schmelzwasserbäche, die in Gletscherspalten verschwinden und sich ihren Weg durch das Innere des Eises bahnen. Anders als Wasser in einem Flussbett, das seinen Lauf über Jahrhunderte gräbt, arbeitet das Schmelzwasser im Gletscher mit enormer Geschwindigkeit. Glaziologen haben gemessen, dass sich manche dieser Wasserkanäle innerhalb eines einzigen Sommers mehrere Meter durch das Eis fressen können. Der Prozess ist dabei alles andere als gleichmäßig: Das Wasser folgt Schwachstellen im Eis, nutzt bereits vorhandene Risse und Lufteinschlüsse, weitet sie aus und schafft so ein verzweigtes Netzwerk aus Gängen und Hohlräumen.
Besonders faszinierend ist dabei die Rolle der Wärmeenergie. Fließendes Wasser gibt durch Reibung Wärme an seine Umgebung ab, was das umgebende Eis zum Schmelzen bringt. Gleichzeitig transportiert das Wasser selbst Wärme von der Oberfläche in tiefere Schichten des Gletschers. Dieser Wärmetransport verstärkt sich selbst: Je größer der Tunnel wird, desto mehr Wasser kann hindurchfließen, was wiederum mehr Wärme bedeutet und zu weiterem Schmelzen führt. Wissenschaftler sprechen hier von einem positiven Rückkopplungsmechanismus. Im Winter, wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fallen, kommt dieser Prozess zum Erliegen. Das Wasser in den Hohlräumen gefriert, die Tunnelwände stabilisieren sich und für einige Monate existiert eine begehbare Struktur – eine Eishöhle im eigentlichen Sinne.
Doch nicht jeder wassergegrabene Tunnel wird zur der blauen Kathedrale, die Fotografen aus aller Welt anlockt. Die spektakulären Farben entstehen durch ein Phänomen, das Physiker als selektive Absorption und Streuung bezeichnen. Wenn Sonnenlicht durch Eis dringt, werden die langwelligen Anteile des Spektrums, also Rottöne, vom Eis absorbiert, während die kurzwelligen blauen Wellenlängen durchgelassen oder gestreut werden. Je dichter und blasenfreier das Eis ist, desto intensiver erscheint dieser Blauton. In den Eishöhlen Islands findet sich oft besonders altes, komprimiertes Gletschereis, das über Jahrhunderte durch den Druck der darüberliegenden Schneemassen verdichtet wurde. Dieses Eis ist nahezu frei von Luftblasen, die das Licht sonst diffus streuen würden. Das Ergebnis ist jenes tiefe, fast unwirkliche Blau, das die Höhlen so einzigartig macht.

Mitten in einer Eishöhle, umgeben von meterdicken Eisschichten.
Foto von Tom Schrage
Für Glaziologen sind Eishöhlen weit mehr als nur ein ästhetisches Phänomen. Sie bieten Zugang zu Schichten des Gletschereises, die normalerweise nur durch aufwendige Bohrungen erreichbar wären und diesen dadurch als ein Archiv der Erdgeschichte. Jede Schicht Eis, die sich über die Jahrtausende im Gletscher abgelagert hat, enthält Informationen über die Atmosphärenzusammensetzung, die Temperatur und sogar über vulkanische Ereignisse der jeweiligen Epoche. In den Wänden der Eishöhlen sind diese Schichten oft deutlich sichtbar als dunkle Bänder vulkanischer Asche, die von vergangenen Eruptionen zeugen, oder als helle, blasenreiche Zonen, die auf besonders schneereiche Winter hindeuten.
Besonders aufschlussreich sind die Aschelagen, die Islands Vulkane im Laufe der Jahrhunderte in den Gletschern hinterlassen haben. Jeder größere Ausbruch hinterlässt eine charakteristische Signatur: Die Zusammensetzung der Asche, die Größe der Partikel und ihre Verteilung im Eis erlauben es Wissenschaftlern, einzelne Eruptionen präzise zu datieren und ihre Auswirkungen zu rekonstruieren. Der Ausbruch der Laki-Spalte im Jahr 1783 beispielsweise, einer der verheerendsten Vulkanausbrüche in historischer Zeit, ist in vielen isländischen Gletschern als markante schwarze Schicht nachweisbar. Diese Eruption setzte so viel Schwefeldioxid in die Atmosphäre frei, dass sie in Europa zu Missernten und Hungersnöten führte – ein Ereignis, dessen Spuren bis heute im Eis konserviert sind.
Doch die Eishöhlen offenbaren auch eine weniger erfreuliche Geschichte: den rapiden Rückgang der isländischen Gletscher. Messungen zeigen, dass die Gletscher Islands seit Ende des 19. Jahrhunderts etwa elf Prozent ihrer Fläche verloren haben, mit einer drastischen Beschleunigung in den vergangenen drei Jahrzehnten. Der Vatnajökull verliert gegenwärtig schätzungsweise zehn Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Dieser Massenverlust hat direkte Auswirkungen auf die Eishöhlensysteme: Höhlen, die über Jahrhunderte an derselben Stelle existierten, verschwinden, während an anderen Stellen neue entstehen. Glaziologen, die seit Jahren dieselben Gletscherregionen kartieren, berichten von einer zunehmenden Instabilität der Höhlenstrukturen. Was früher über mehrere Wintersaisons bestand, kollabiert heute oft schon nach wenigen Monaten.

Das Schmelzwasser formt das Eis auf faszinierende Weise.
Foto von Tom Schrage
Die Erkundung von Eishöhlen ist kein ungefährliches Unterfangen. Anders als Kalksteinhöhlen, deren Struktur über geologische Zeiträume stabil bleibt, unterliegen Eishöhlen permanenten Veränderungen. Temperaturschwankungen, selbst geringfügige, können innerhalb weniger Stunden die Stabilität einer Höhle beeinträchtigen. Eisblöcke können sich von der Decke lösen, Wände können einbrechen, und im schlimmsten Fall kann eine gesamte Höhle kollabieren. Aus diesem Grund ist die Begehung nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und idealerweise mit erfahrenen Guides möglich, die die lokalen Bedingungen genau kennen und die Wettervorhersagen ständig im Blick haben.
Forscherteams, die Eishöhlen wissenschaftlich untersuchen, nutzen eine Kombination aus traditionellen Methoden und modernster Technologie. Bodenradar hilft dabei, die Dicke der Eisdecke über der Höhle zu bestimmen und potenzielle Schwachstellen zu identifizieren. Thermometersonden messen Temperaturprofile im Eis und geben Aufschluss darüber, wie schnell Schmelzprozesse voranschreiten. Drohnen mit hochauflösenden Kameras und Laserscannern erstellen dreidimensionale Modelle der Höhlenstrukturen, die es ermöglichen, Veränderungen über die Zeit präzise zu dokumentieren. Diese Daten sind nicht nur für das Verständnis der Höhlen selbst wichtig, sondern liefern auch wertvolle Erkenntnisse über die Dynamik von Gletschern im Allgemeinen. Ein Forschungsfeld, das angesichts des Klimawandels zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Einer der faszinierendsten Aspekte der Eishöhlenforschung betrifft die Mikrobiologie. Lange Zeit galten Gletscher als lebensfeindliche Umgebungen, doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Wissenschaftler entdeckt, dass selbst im Inneren von Gletschern Leben existiert. Bakterien, die extremophile Organismen genannt werden, haben sich an die unwirtlichen Bedingungen angepasst und können bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt überleben. In Eishöhlen finden sich oft besonders hohe Konzentrationen dieser Mikroorganismen, da hier Schmelzwasser und Nährstoffe zusammenkommen. Diese Lebensgemeinschaften sind nicht nur aus biologischer Sicht interessant, sie könnten auch Modellsysteme für die Suche nach Leben auf anderen Himmelskörpern sein, etwa auf den Eismonden des Jupiter oder Saturn, wo ähnliche Bedingungen herrschen könnten.

Die Zukunft von Islands Eishöhlen ist untrennbar mit der Zukunft der Gletscher selbst verbunden und die Prognosen sind eindeutig: Klimamodelle sagen voraus, dass die isländischen Gletscher bis zum Ende dieses Jahrhunderts den Großteil ihrer Masse verlieren werden, manche könnten vollständig verschwinden. Der Vatnajökull könnte in 200 Jahren nur noch ein Bruchteil seiner heutigen Größe sein. Dieser Verlust hätte weitreichende Konsequenzen, die weit über die Ästhetik hinausgehen. Gletscher sind natürliche Wasserspeicher, die im Winter Schnee akkumulieren und im Sommer kontinuierlich Schmelzwasser abgeben. Dieses Wasser speist Flüsse, versorgt Ökosysteme und wird zur Energiegewinnung genutzt. Ohne Gletscher würde sich der Wasserhaushalt Islands dramatisch verändern, mit Auswirkungen auf Landwirtschaft, Energieversorgung und Biodiversität.
Für die Eishöhlen bedeutet der Gletscherschwund ein Paradoxon: Kurzfristig könnten die verstärkten Schmelzprozesse zur Bildung neuer Höhlen führen, da mehr Wasser durch das Eis fließt. Langfristig jedoch schwindet die Substanz, aus der diese Höhlen bestehen. Wissenschaftler dokumentieren bereits jetzt, dass viele der bekanntesten Eishöhlen instabiler werden oder ganz verschwinden. Die Crystal Ice Cave am Vatnajökull, eine der meistbesuchten Höhlen Islands, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehrfach vollständig verändert. Was Touristen heute sehen, existierte vor fünf Jahren noch nicht und was sie in fünf Jahren sehen werden, ist heute noch nicht entstanden.
Diese Vergänglichkeit verleiht den Eishöhlen eine besondere Bedeutung. Sie sind nicht nur naturwissenschaftliche Objekte, sondern auch Symbole für die Fragilität natürlicher Systeme in Zeiten rapiden Wandels. Jeder Besuch einer Eishöhle ist eine Begegnung mit einem Augenblick, der sich nie wiederholen wird. Die spezifische Konfiguration von Licht, Eis und Form existiert genau in diesem Moment und wird morgen schon anders sein. In dieser Flüchtigkeit liegt eine Aufforderung: zu beobachten, zu verstehen und zu bewahren, was noch zu bewahren ist. Nicht durch Konservierung, denn Gletscher sind per Definition in Bewegung, sondern durch Wissen und Respekt vor den Prozessen, die diese ephemeren Wunder erschaffen.
Die Eishöhlen Islands erzählen letztlich drei Geschichten gleichzeitig: die Geschichte der geologischen Kräfte, die dieses Land formen, die Geschichte des Klimawandels, der unsere Gegenwart prägt, und die Geschichte menschlicher Neugier, die uns dazu treibt, selbst die unwirtlichsten Orte zu erkunden. Wenn du vor dem Eingang einer solchen Höhle stehst, der Kälte des Gletschers im Gesicht spürst und das Blau des Lichts im Inneren erahnst, dann blickst du nicht nur in eine geologische Formation – du blickst in ein Archiv der Zeit selbst, geschrieben in einer Sprache aus Eis und Wasser, die bald verstummen könnte.